Mann mit zugeknöpften Taschen

11 Mär 19:01 2012 von Oswald Schwarzl Print This Article

Von Mensch zu Mensch: Was die moderne Wissenschaft davon über die Vorgänge im Gehirn weiß. Wie „gehen“ Mitgefühl und Charisma?

LINZ. In der Deutschstunde der Maturaklasse hat  unser Professor einmal ein kleines Gedicht von Goethe rezitiert. Obwohl es zu den  weniger bekannten gehört, habe ich es mir nach nur einmaligen Hören bis heute gemerkt. Dies mag wohl mit der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg zusammenhängen. In schlechten Zeiten und bei Mangel an  fast allem waren die Menschen viel mehr bereit, sich gegenseitig zu unterstützen als später in Zeiten allgemeinen Wohlstands.

 

Das Gedicht lautete nämlich:

 

                                 Mann mit zugeknöpften Taschen,

                                 dir tut niemand was zulieb`.

                                 Hand wird nur von Hand gewaschen,

                                 wenn du nehmen willst, so gib! 

 

Zweifellos hat Goethe das Gedicht im erwähnten Sinn der moralisch einwandfreien, gegenseitigen Unterstützung   geschrieben.  Wenn ich mir das Gedicht aber heute in Erinnerung rufe, bekomme ich den fürchterlichen Verdacht, dass es auch arg missverstanden werden könnte. Gleich bekomme ich Visionen von dubiosen Prominenten oder stelle mir vor, das Gedicht hinge an der Wand eines Amtes mit Publikumsverkehr, in welches die Bürger mit ihren Anliegen kommen müssen!

 

Aber beginnen wir das Thema zunächst einmal  grundsätzlich  zu untersuchen und schauen wir, was die Wissenschaft über die Vorgänge in  Gehirn und Psyche bei  zwischenmenschlichen Beziehungen herausgefunden hat.

Nehmen Sie an, Sie sitzen in einem Wartezimmer. Nach einiger Zeit beginnt jemand unverhohlen laut zu gähnen. Gleich folgt ein anderer nach und Sie stellen fest, dass Sie selbst nur mit Mühe den gleichen ungehörigen Drang unterdrücken.

Oder:

 

Im Theater beginnt jemand bei einer mitreißenden Szene zu applaudieren und alle fallen ein.

 

Weitere Szenen: Das Unglück und der Schmerz einer sympathischen Filmfigur rührt Sie zu Tränen.

 

In einer lustigen Gesellschaft beginnt einer, ein bekanntes Lied zu singen. Schon machen alle mit.

 

Ebenso klappt die Sache mit Lachen. Nicht umsonst sagt man, Lachen sei ansteckend; manche wissen gar nicht, warum sie mitlachen.  

 

Kinder lernen Handfertigkeiten oder Laute einfach und  ohne Aufforderung durch Nachahmen.

 

Schwarmverhalten heißt das  heute, was man früher als Psychologie der Massen bezeichnete: Ein Vogel im ruhenden Schwarm fliegt auf, sein Nachbar folgt wie unter Zwang und schon kommen alle nach. Auch bei Menschen hat man ähnliches festgestellt. Wenn nur 5 % wissen, wohin sie wollen, folgen in einer Stresssituation alle anderen. Was für eine Chance für  raffinierte Politiker! Schon sind wir  beim Missbrauch: Krisenstimmung schaffen und den Ausweg offerieren, der dann aber nur der eigenen Klientel nützt.

 

Wie sind  nun  solche Wirkungen von Außenwahrnehmungen auf einen doch eigentlich physisch unbeteiligten Menschen zu erklären?

 

Seit die junge Wissenschaft der kognitiven Neurobiologie mit Hilfe von PET (Positronen-Emissions-Tomographie) genauer in die Abläufe im Gehirn blicken kann, weiß man, dass bei den geschilderten Inputs im Gehirn von den 100 Mrd. Neuronen ein Teil jener miterregt wird, der auch bei aktiver eigener Ausführung des gesehenen oder gehörten Vorgangs in Aktion tritt. Selbst der gedankliche Abruf derselben kann genügen. So hat man beispielsweise festgestellt, dass bei frisch verliebten männlichen Testpersonen allein das Betrachten eines Bildes der Geliebten den Testosteronspiegel steigen ließ.

 

Ein einzelnes Neuron hat  bis zu 5000 Synapsen. Das sind die   Verbindungsstellen im Netzwerk mit anderen,  wobei die Durchgängigkeit in bestimmte Richtungen gehemmt oder angeregt werden kann. Die von außen kommenden Sinnesreize gehen als elektrische Impuls zum Gehirn und lösen chemische Prozesse in den Synapsen aus. Sind genügend davon  aktiviert, beginnt das zugehörige Neuron zu feuern. Dabei können Gene aktiviert werden, die  beständige Proteine erzeugen,  genannt Engramme, welche dann bei neuerlicher Aktivierung die Stützen der Erinnerung bilden.

 

Über bestimmte Neuronen können auch Hormone produziert werden, welche als Botenstoffe im Blutkreislauf dort andocken, wo sie Rezeptoren finden und dann spezifische Wirkungen auslösen.

 

Dieser verkürzte und unvollständige Erklärungsversuch von Vorgängen  im Gehirn erscheint mir zum Verständnis der hier  behandelten Fragen mindestens nötig. Wer mehr von den interessanten und hochkomplexen Vorgängen wissen möchte, die in ihrem koordinierten Zusammenwirken aber noch längst nicht voll durchschaubar sind, wird auf die mehr als 4000 Seiten gelesene Fachliteratur  der Anlage verwiesen.

 

Italienische Wissenschaftler unter G. Rizzolatti berichteten ab 2000  von folgenden Versuchen: Beobachtete ein Affe eine bestimmte Handbewegung eines anderen der Gruppe, wurden bestimmte Neurone in seinem Gehirn aktiviert. Machte er selbst aktiv die gleiche Bewegung, waren es die gleichen Neuronen.

 

Sie erfanden dafür den Ausdruck Spiegelneuronen, der rasch populär wurde. Aber eigentlich war das weder besonders neu noch aufregend und ich möchte meinen, es gibt gar keine speziellen Neuronen, die ausschließlich „spiegeln“.

 

Das Ausmaß der erregten Neuronen wird über die Gefühlsebene (Limbisches System) beeinflusst und hängt davon ab, wie sehr sich der Beobachter mit dem Beobachteten im Unterbewusstsein identifizieren kann. Bestehen gegenüber dem Beobachteten feindliche Gefühle, seien sie auch nur aus einem abstoßenden Äußeren desselben,

so wird dadurch die Auslösung von Folgehandlungen mitlaufender Neuronen wie Nachahmung oder Mitgefühl blockiert.

 

Bei großem Hass könnte sogar Schadenfreude ausgelöst werden. Demgegenüber dürfte die größte Identifikation von einer  Mutter zu ihrem Kind gegeben sein. Das Hormon Oxytocin spielt dabei eine Hauptrolle.

 

Bei Autisten fehlt das Mitlaufen der analogen eigenen Neuronen oder ist stark vermindert.

 

Wir müssen also davon ausgehen, dass  eine unbewusste und automatische Aufnahme von Details ihres Gegenübers wie Mimik, Aussehen, Sprache usw. – ob sie wollen oder nicht – in Ihr analoges Nervensystem erfolgt, dort in Computerschnelle unzählige rückgekoppelte Kreisläufe durchläuft und dann, reichlich gefühlgefärbt schließlich  im frontalen  Kortex als dem Haus des Verstandes zu einer abschließenden, nun bewussten Meinung  führt, die der Mensch dann für objektiv hält.

 

Viel ist darüber gerätselt worden, was eine Person zur Persönlichkeit macht, von der man sagt, sie hätte Charisma. Von unsichtbaren Wellen wurde gemutmaßt, denen man sich nicht entziehen kann. Oft scheint es, ein einziger kurzer Blick in die Augen ihres Gegenübers kann über kühle Gleichgültigkeit, Abneigung oder Sympathie entscheiden.

 

Es sind aber  unsere mitlaufenden Neuronen, die ganz unbewusst die kleinsten Unterschiede in Mienenspiel und Sprache übernehmen und analysieren und so ermöglichen, zwischen „angelernt“ und „überzeugend“ unterscheiden zu  können.

Kann man Charisma lernen? Für Politiker wäre das sehr wichtig. Antwort:

 

Eine Rolle sprechen und dazu gewisse Gebärden und Haltungen  lernen kann jeder. Aber genügt das? Wenn man  an unsere  Bundeskanzler und ihre Vizes von der Koalition denkt, scheint  trotz teilweise teurer Profis aus den USA weit zurück eine überzeugende Leistung  nicht gelungen zu sein.

 

Unecht, aber überzeugend zu wirken scheint also schwierig; trotzdem gibt es erfolgreiche Täuscher. Zunächst die Angenehmen: Schauspieler mit besonderen Talent spielen ihre Rolle nicht, sie können sie  echt fühlen. Leider gilt ähnliches auch für einzelne Hochstapler und Heiratsschwindler, die im Augenblick ihres Auftretens an die Echtheit ihrer Rolle glauben.

 

Da der Mensch ja gern  Gutes erhofft, kann er leicht missbraucht werden und  da ist es wohl angezeigt, manchmal eine Testphase einzuschalten, ob die unvermeidlich mit Gefühlen eingefärbte,  positiv durchgekommene Meinung über einen anderen noch mit den Fakten kompatibel ist.

 

Zu den Missbräuchen des „Tue Gutes“ gehört auch die Korruption. Diese liegt vor, wenn jemand die ihm gewährte Befugnis über fremdes Vermögen missbraucht, um den Geber der Vollmacht einen Schaden zuzufügen. Er muss selbst davon gar keinen Vorteil haben, es genügt,  einen Dritten zu begünstigen. Meist ist die Großzügigkeit auf fremde Rechnung aber auch mit einem Vorteil des Täters verknüpft, sei es direkt oder auf Umwegen.

 

Je weiter man in Europa nach Süden und Osten kommt, umso mehr scheint das unberechtigte handaufhalten für eine Leistung üblich, für die der Bevollmächtigte ohnehin  bezahlt wird. Aber auch in Österreich fallen einem gleich etliche Namen von sogar hohen Amtsträgern ein, die da gleich im Millionmaßstab kassiert haben sollen.

 

Aber „Leben und leben lassen“ klappt nur unter „Ehrlich währt am Längsten,“ denn : „Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen!“

 

Ein weit verbreiteter Missbrauch ist auch die einseitige Ausnutzung hilfsbereiter Menschen durch solche, die nur nehmen wollen, ohne jemals selbst zu geben und an die unser Goethegedicht wohl in erster Linie gerichtet war.

 

Beispiele reichen vom Arbeitgeber, der Überstunden ohne Bezahlung erwartet, bis zu  einer immer größer werdende Masse von Bettelbriefen teils dubioser „Wohltäter“, die davon gut leben und z. B. von den kassierten Millionen dann  einmal im Jahr unter großer Publizität einen Brunnen in Afrika oder Asien bohren lassen.

 

Auch in der Familie sollte man nicht vergessen,  die unermüdliche Arbeit einer Hausfrau und Mutter mit Liebe und Dankbarkeit zu vergelten, denn Gewohntes wird allzu leicht als selbstverständlich übersehen.

 

Bleibt  die Bilanz der gegenseitigen Beziehung nämlich langfristig immer einseitig, wird eines Tages die Konsequenz gezogen. In unserer Zeit wird die Zeit des Wartens auf den Ausgleich immer kürzer. Die Scheidungsraten zeigen es.

 

Nun aber genug der Moralreden. Zum Schluss nur noch einmal eine alte Weisheit: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt s zurück!“  Wenn Sie freundlich auf jemanden zugehen, bekommen Sie in den meisten Fällen eine positive Reaktion zurück und anderen gezeigte eigene Hilfsbereitschaft schafft Sympathie und gegebenenfalls Gegenleistung, nur sollte es nicht als Geschäft mit penibler gegenseitiger Verrechnung laufen, denn da wird es bald peinlich.

 

Also beginnen Sie noch heute mit Überwindung schlechter Laune und mit dem positiven „approach“ ihrer Mitmenschen. Wir haben ja gerade gelernt, dass sich  Ihre Haltung automatisch wie eine Infektion auf Ihr Gegenüber  überträgt und dort sollte sie dann verstärkt und nicht mühsam wieder kompensiert werden. Sonst könnte es nämlich sein, dass die Genetiker in einigen tausend Jahren dahinter kommen, dass gerade Sie es waren, der die ganze Welt mit einer dann  herrschenden Mieselsucht angesteckt hätte!


                     Anlage zu  „Mann mit zugeknöpften Taschen…“

                        Literatur über kognitive Neurobiologie

 

ERIC KANDEL: AUF DER SUCHE NACH DEM GEDÄCHTNIS. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. Goldmann 2009.

524 Seiten. Eine Biographie des Nobel-Preisträgers, 1938 nach USA. Guter wissenschaftl. Überblick über mod. Gehirnforschung.

 

MARYANNE WOLF: DAS LESENDE GEHIRN. Verlag  SPECTRUM 2009, US-Orig.2007. 348 Seiten. Geschichte der Schriftarten und gute physiolog. Erklärungen  bezüglich Gehirntätigkeit und Legasthenie.

 

PETER SPORK: DER ZWEITE CODE - EPIGENETIK: Rowohlt Tb. 2009, 300 Seiten, Autor ist Neurobiologe. Erklärt neue Erkenntnisse, dass nicht die Gene, aber ihre Schaltsysteme (die Epigenetik) durch Umgebungseinflüsse (Stress) anpassungsfähig sind.

 

RICHARD DAWKINS: DAS EGOISTISCHE GEN; Verlag Spectrum Jubil. - Ausgabe 2007 des Klassikers v. 1976! 529 Seiten. Vorläufer unseres Themas. Teilw. heute überholte Aussagen z.B. über sog. Junk-DNA. Gene übertrieben betont als Entscheidungsträger d. Menschen.

 

GARY MARCUS: MURKS – Der planlose Bau des menschlichen Gehirns. Verlag Hofmann & Campe, 2009 (2008 N.Y.) 256 Seiten. Gewaltsam originell sein wollender US-Prof.(Sprachentwicklung) kritisiert mangelhafte menschl. Merk- u. Sprachfähigkeit.

 

BEATE HANDLER: WIE DER MENSCH DENKT. Goldeggverl: 2010, 300 Seiten. Autorin ist prakt. Psychotherapeutin u. behandelt Thema etwas einseitig aus dieser Sicht. Emotionen, E.Qu. (emotional intelligence Quotient) und ähnl. Spielereien. 

 

GERHARD ROTH: FÜHLEN, DENKEN, HANDELN. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Suhrkamp 2003, 600 Seiten. Vorzügliches Buch eines deutschen Prof. für Verhaltenspsychologie. Gehirnfunktionen und Evolution fachlich bestens erklärt.

 

RICHARD WISEMAN: QUIRKOLOGIE .Die wissenschaftl. Erforschung unseres Alltags. Fischer Tb. 2008, (engl. Orig 2007). 300 Seiten. Autor  ist engl.  Prof. Eine weitgehend oberflächliche Verhaltensforschung alten Stils, aber gefällig geschrieben.

 

MANFRED SPITZER. NERVENSACHEN. Geschichten vom Gehirn  Suhrkamp 2005, 376 Seiten, Autor geb. 1958, Leiter Uniklinik Ulm Neurowissenschaftler mit US-Praxis. Über psychiatr. Probleme, erstes Drittel recht gut, dann verflachend.

 

DAVID J. LINDEN: DAS GEHIRN Ein Unfall der Natur und warum es dennoch funktioniert. Rowohlt Tb. 2011 (US 2007) 316 Seiten. L. ist Prof. in Baltimore geb. 1961. Trotz des reißerischen Untertitels ein gutes Buch mit ausführlichen Einblicken in die Funktion des Gehirns.

 

MARCO JACOBINI: WOHER WIR WISSEN, WAS ANDERE DENKEN UND FÜHLEN Das Geheimnis der Spiegelneuronen. Goldmann 2011, (Ital. Orig. 2008)  320 Seiten. Der Neuropsychiatrie war es neu, dass vom Zusehen eigene entspr. Neuronen mitlaufen.

 

JOACHIM BAUER: DAS GEDÄCHTNIS DES KÖRPERS. Piper 2011 (2004). 270 Seiten. Physiolog. Reaktionen des Gehirns auf Stress, Depression, Schmerzen Drogen, burn out etc. erklärt.



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