Die Vögel fliegen nach Süden

13 Okt 22:00 2013 von Oswald Schwarzl Print This Article

Eine herbstliche Reminiszenz mit Verwicklungen  aus der Jugend um eine verhinderte Liebe

Immer wenn im Herbst der Himmel wie mit pastellblauer Seide bespannt aussieht, die Luft durchsichtig wie Kristallglas wird und die Sonne nur mehr milde scheint, wenn sich die immer seltener werdenden Vogelschwärme zum abfliegen sammeln, dann erfasst ihn seit Kindertagen eine unklare Unruhe nach Veränderung. Da er als Kind bei seinen Eltern nahe der Bahn wohnte -  wir befinden uns kurz vor dem zweiten Weltkrieg- horchte er schlaflos oft nachts auf  das Pfeifen der Lokomotiven, die auf  Einfahrt in den Linzer Bahnhof warteten und dieses wurde zum Signal seines Fernwehs.

Jahrelang las er von allen nur verfügbaren Quellen die Reisebeschreibungen  und Forschungsberichte über die Entdeckung der Welt in den vergangenen Jahrhunderten bis zur Jetztzeit und alle Kontinente wurden ihm vertraut. So waren darunter zum Beispiel  Berichte über die Besiedelung Amerikas, die Auffindung des in Afrika vermissten Forschers David Livingstones durch  H.M. Stanley, die Polexpeditionen von  Scott  und Amundsen, die ersten Weltumsegelungen, die vielen, als Abenteuerromane geschriebenen Berichte über die Errichtung des englischen Kolonialreichs in Afrika und Asien, die Karl May-Bücher nicht zu vergessen usw. usf.

Jugendliches Fernweh - Foto: Verfasser

Es verwundert daher wenig, dass daraus in seinem Kopf eine unstillbare Neugier entstand, diese Welt  in Wirklichkeit genau kennen zu lernen, ja dies wurde zu einer fixen Idee, deren Verwirklichung er sich als vorpubertärer Jugendlicher zum Lebensziel setzte. Sein von jenen Hormonen noch unbeeinflusster Verstand registrierte in seiner Umwelt genau die nach seinen Maßstäben unverständlichen, weil libidogesteuerten Handlungen  der Älteren und er schwor sich, nie solche „Fehler“ zu machen und sich dadurch niemals  von seinem Ziel abbringen zu lassen.

Er war in jenem Entwicklungsabschnitt, den Schiller in seiner Glocke mit dem Vers charakterisiert: „Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe und stürmt ins Leben wild hinaus.“ Auf die naturgemäß anders gearteten Interessen der Mädchen – meist weniger aggressiv und mobil - sehen die Knaben dann fast ein wenig mitleidig herab. (Wenn  auch manche Pädagogen einen solchen Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht wahr haben wollen)!

In der  Oberstufe seiner Mittelschule gab es dann  keine Mädchen und somit auch keine weiteren Erfahrungen, denn die mit der eigenen Schwester beschränkten sich  meist nur  auf geschwisterlichen Konkurrenzkampf der Älteren gegen den jüngeren Bruder. In der Klasse selbst schafften ihm nicht  körperliche Überlegenheit, aber wohl seine Fähigkeiten zum logischen Denken Achtung und Anerkennung.

 

Gerade erst war der Krieg zu Ende gegangen und das Leben begann in bürgerliche Bahnen zurückzufinden. So besuchte er also einen Tanzkurs für Mittelschüler und nun  begann das Fernweh langsam und zögernd Konkurrenz durch das Interesse am anderen Geschlecht zu bekommen und stürzte ihn in einen nicht lösbaren Zwiespalt.

Die Tanzschule Schlesinger,  welche im Kaufmännischen Vereinshaus schöne Räumlichkeiten benutzen konnte, war in Linz gewissermaßen erste Wahl und Herr  Schlesinger mit Gattin galt  in Linz etwas.

Es war organisatorisch schon vorgesehen, dass die Zahl der an einem Kurs teilnehmenden Damen und Herren ausgeglichen war. Die ersten körperlichen Kontakte mit weiblichen Formen beim Tanzen war neu, ungewohnt und ein wenig verwirrend. (Da wird die heutige Jugend wohl lächeln!)

Beim Kommando Partnerwahl – letztere normal durch den Herrn – fanden  sich bald gewisse Paare bevorzugt zusammen. So ergab es sich schließlich, dass unser Freund meist mit einem schmalen, sympathischen Mädchen vom Akademischen Gymnasium tanzte, das klug und ohne Launen zu sein schien, wobei er letzteres wohl mangels Erfahrung noch nicht so zu schätzen wusste.

Sie hieß Traudi und hatte sich  mit ihrer Schulfreundin und deren fixem Freund Hermann angemeldet. Manchmal, wenn sie sich nach Kursende nicht ihrer Freundin anschloss, begleitete er sie bis zum Volksgarten, in dessen Nähe ihre Eltern wohnten und die gegenseitige Sympathie schien zu wachsen.


Der Flug führt nach Nirgendswo

Schließlich kam das Abschlusskränzchen, das Herr Schlesinger mit größerem Aufwand durchführen wollte, weshalb er bat, es mögen sich jeweils Paare für die Teilnahme anmelden.

Was aber tat unser Held?  

Er tat nichts!

Schließlich ergriff Hermann, die Initiative, sicherlich  abgestimmt und fragte ihn, ob er sich nicht mit Traudl anmelden möchte. Da sagte er spontan:  „ Ja, ich will!“

Die Tanzschule setzte vor dem Ball noch eine Probe an. Aber er kam nicht und er kam auch nicht zum Kränzchen und er meldete sich nie mehr!

Was war der Grund?

 

Je mehr er sich zu Traudi hingezogen fühlte, umso stärker wurde sein Konflikt mit dem Traum von Freiheit und der Erwartung auf die große Welt, die es zu erobern galt und mit seinem  sich selbst gegebenen Versprechen.

Noch dieses Kränzchen und er würde sich hoffnungslos in sie verlieben! Über diesen Konflikt  „ ja, nein oder doch, doch nicht“ war  der sonst so zuverlässige und korrekte Bursche wie gelähmt und machte ohne ein Wort etwas sehr ungehöriges, nämlich gar nichts. Von da an  ging er in großem Bogen und mit schlechtem Gewissen um das Vereinshaus herum und das   ohne jede Erklärung, konnte er sich doch selber keine geben. Die Gefühle des armen, getäuschten Mädchens scheinen in diesen egoistischen Seelenkrämpfen wohl kaum einbezogen worden zu sein.

 

Aber alle Verstöße gegen die ungeschriebenen Regeln der Fairness des Lebens tragen ihre Strafe in sich.

Zwar konnte er im späteren Leben Stellung und Ansehen erringen und soviel von der Welt sehen, wie er sich einst erträumt hatte, aber immer wenn der blaue Herbsthimmel die Sehnsüchte weckte, denen er seine erste Liebe geopfert hatte, bevor sie noch richtig begonnen hatte oder wenn in späteren Beziehungen Probleme auftauchten, flüsterte das schwarze Unterbewusstsein das Märchen von der makellosen Traudl, mit der alles ideal sein könnte und die er so leichtfertig im Stich gelassen hatte.

 

Nach einigen Jahren las er in der Lokalzeitung, dass eine Waltraud K. (es war nur so abgekürzt), Alter passend,  sich wegen einer Tbc-Erkrankung das Leben genommen habe. Er nahm ohne Nachprüfung an, dass dies seine Traudi gewesen wäre. Er war ehrlich sehr tief betroffen, eine Entschuldigung nun nicht mehr möglich.  Vielleicht hoffte das Unterbewusstsein aber auch, durch schnelle Leichtgläubigkeit, nun ein schnödes Benehmen  rascher vergessen zu können. Allerdings vergeblich.

So vergingen denn viele Jahre.

 

Eines Tages, die Beteiligten müssen inzwischen über 80 sein, blättert er im Telefonbuch und da springt ihm plötzlich die Eintragung eines Einzelanschlusses ins Auge : Waltraud K….,  der Name in der  ungewöhnlichen Schreibweise, die ihn meist  von ähnlichen unterschied. Sollte das sie….?  Hat sie nie geheiratet oder wieder ihren Mädchennamen  oder ist alles nur zufällige Gleichheit?

Seine Fantasie schlägt Purzelbäume. Vielleicht ist es doch noch nicht zu spät für eine Entschuldigung? Und kann schlechtes Benehmen – wenn auch im Pubertätsstrudel- nach 65 Jahren noch ein „Te absolvo“ bekommen? Aber darauf kann es gar nicht ankommen, denkt er, das wäre schon wieder nur  egoistisch und wichtigtuerisch. Seine damalige Ignoranz muss ja als persönliche Abwertung empfunden worden sein. Es gälte, dies zu korrigieren, denn es war im Gegenteil zu hohe Achtung und Angst vor dem Unbekannten, gepaart mit jugendlicher Unbeholfenheit. Das wäre die Botschaft.

Aber einfach anrufen scheint unmöglich, es wird soviel Telefonschwindel getrieben, und überhaupt, vielleicht kann sie sich gar nicht mehr an diese  Episode ihres Lebens erinnern. Mit einer telefonischen Kurzfassung würde man ihn für verrückt halten, ja, würde seine  eigene Ehefrau dazu nicht auch genau  letzteres  sagen?

 

Dann kommt ihm die Idee  einer vielleicht möglichen Lösung: Zunächst niederschreiben das Ganze, und wenn`s umsonst war, dann war es eben eine verdiente Strafaufgabe und ein spätes Schuldbekenntnis. Und dann die Geschichte als Feuilleton veröffentlichen, in regionews zum Beispiel, und wenn es die Richtige gibt, wird sie es lesen,  daran glaubt er felsenfest und andere Leute halten  sowieso alles für frei erfunden!



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