Der alte Mann und das Neue Jahr
Ein besinnliches Stimmungsbild
Langsam stieg der alte Mann den steilen Hohlweg hinauf. Bewegung tut gut denkt er, auch im Neuen Jahr. Er mag Hohlwege. Das dichte Geäst der Bäume und Sträucher an den Rändern schaffen einen Tunnel der Geborgenheit, wenn auch jetzt die Blätter neben einigen Schneeresten schon den Boden mit einem braunen Teppich bedecken. Da kann es vorkommen, dass ein die Felder querendes Reh plötzlich vor einem eintaucht und - den Graben querend - wieder verschwindet.
Er liebt diesen Hohlweg, nicht weit von seinem Haus und nahe an der großen Stadt, der hinaufführt auf ein Plateau mit freien Blick auf einige Quadratkilometer Felder und Büsche. Erst an den fernen Rändern stehen einige Häuser.
Dann versucht er jenes Tempo zu finden, bei dem er kontinuierlich steigen kann, ohne außer Atem zu kommen und gleich wieder rasten zu müssen. Mit soviel über 80 muss man mit den Anforderungen an sich bescheidener werden…
„Steig ich den Berg hinan….“ kommt ihm plötzlich in den Sinn und schon spult das Gedächtnis den ganzen Text eines Soldatenliedes ab, das er vor fast 70 Jahren lernen musste. Das passiert ihm in letzter Zeit häufig, dass auf ein zufällig aufgefangenes Schlagwort ungefragt, als hätte man es bei Google eingetippt, Texte, Lieder oder Reime aus oft fernster Vergangenheit im Kopf ablaufen.. Er nannte dies seinen „Sprücheklopfer“ und weist ihn manchmal barsch zurück. Unendlich vieles scheint dort gespeichert zu sein, hatte ihn doch seine Mutter mit ihrer Vorliebe für Poesie damit schon im Vorschulalter unterhalten und er konnte schon damals - nur vom Zuhören - seitenweise rezitieren. Für alle Lebensumstände hatte sie stets Sprichwörter, Gedichte oder Zitate zur Hand.
Dagegen machte ihm im Alter nun der Abruf von Namen, Fremdwörtern oder abstrakten Begriffen oft Probleme und er bekämpfte sie mit Mnemotechniken aus der Fachliteratur, um der im Alter schrumpfenden Struktur Hippocampus im Gehirn ein Schnippchen zu schlagen, indem man Bilder mit dem Wort verknüpft, die zum gesuchten Begriff leiten.
Im Hohlweg wird nun eine von oben herunter laufende Joggerin sichtbar. Der alte Mann tritt im schmalen Hohlweg zur Seite und ruft ihr entgegen : „Weg frei für die Jugend!“
Im näher kommen sieht er, dass sie wohl schon 10 Jahre über „Jugend“ ist. Sie läuft vorbei und keucht: „Danke für Jugend und alles Gute!“ „Danke, gleichfalls!“ ruft er ihr nach und dann ist er wieder alleine mit seinen Gedanken.
„I wünsch a guats neichs Jahr.
´s Christkindl im krausten Haar.
Am Tisch an bratenen Fisch
in der Mitten a Flasch`n Wei´
da sollen da Herr und d´ Frau recht glücklich sei´!“
„Schluss mit dem verdammten Kitsch“, denkt er und „hoffentlich wiederholen sich diese Zeiten nie mehr.“ Manchmal aber ließ er sich ganz gern von den Sprüchen oder Melodien des Sprücheklopfers einlullen, die offenbar kurzzeitig hormonell generierte Harmoniegefühle schaffen können.
Im Weiterschreiten muss er an seine Bergwanderungen denken. Nach Krieg und Militär zog er gern ganz allein über die Gebirge. Spontan fallen ihm ein, von Hallstatt über den Dachstein nach Gosau oder von Hinterstoder über den Priel zum Grundlsee und von Eisenerz über den Hochschwab. Nach dem vielen Kollektiv beim Militär und in Gefangenschaft genoss er das Alleinsein und die Weiten der Berge hatten einen berauschenden Zauber, der ihn mit Energie für eine ungewisse, aber ersehnte Zukunft erfüllte.
Und heute? Als er über die Hügelkante aus dem Hohlweg ins Freie tritt, strömt aus der Weite der Landschaft noch immer Ruhe und Harmonie, aber der in der Jugend daraus aktivierte Drang nach Verwirklichung von Zukunftsplänen ist vorbei.
Vorbei ist auch die Zeit des steten Wartens auf etwas Zukünftiges, das man sich herbeiwünschte.
Da hatte ihn vor einigen Tagen einer der wenigen noch verbliebenen, weil noch jüngeren Freunde gefragt, was er sich für das neue Jahr vorgenommen habe. Ohne zögern hatte er nur gelacht und geantwortet: „Es zu überleben!“
Mit der Unmöglichkeit, im hohen Alter noch größere Veränderungen bewirken zu können, war wie von selbst auch der Drang dazu geschwunden und hatte dem Wunsch nach Bewahrung der Gegenwart Platz gemacht. Aber er weiß, dass Leben auch Veränderung heißt und nichts kann bleiben wie es ist.
Waren auch die großen Pläne geschwunden, so blieb ihm doch der faustische Drang und die Neugier nach Wissen als eine nie versiegende Quelle mentaler Befriedigung zur Komplettierung seines Weltbildes.
Er hält die Schrift für die größte Erfindung des homo sapiens, da sie ermöglicht., flüchtige Gedanken eines Menschen noch nach seiner materiellen Existenz zu erhalten.
Es gäbe da noch so viele interessante Bücher für ihn zu lesen. “Hoffentlich schaffen das meine Augen noch “ denkt er. „Also auf ins Neue Jahr.“
Gleich echot sein Sprücheklopfer: „Schau´n ma mal, schau´n ma mal“
Diesmal weist er ihn nicht in die Schranken, sondern wiederholt im abwärts schreiten bewusst: „Na dann schau´n ma´ mal!“