190.000 chronisch kranke Schüler: Betroffene fordern bessere Rahmenbedingungen in den Schulen

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190.000 chronisch kranke Schüler: Betroffene fordern bessere Rahmenbedingungen in den Schulen
Foto: Klaus Ranger / chronisch_konkret
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190.000 chronisch kranke Schüler: Betroffene fordern bessere Rahmenbedingungen in den Schulen
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190.000 chronisch kranke Schüler: Betroffene fordern bessere Rahmenbedingungen in den Schulen
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16 Nov 16:21 2018 von OTS Print This Article

Wien (OTS) - In Österreich haben mindestens 190.000 Schülerinnen und Schüler eine chronische Krankheit. Sie und ihre Eltern stehen noch immer vor enormen Herausforderungen, obwohl sich die legistischen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren verbessert haben. Am Dienstag erzählten Betroffene im Rahmen einer Podiumsdiskussion der Plattform „chronisch_konkret“ in Wien von ihren Erfahrungen. Obwohl sich einige engagierte Pädagogen um chronisch kranke Kinder und Jugendliche bemühen, gibt es an Bildungseinrichtungen noch immer viele Vorbehalte, und oft auch Vorurteile. Die am Podium versammelten politischen Entscheidungsträger – Familienministerin Juliane Bogner-Strauß, Volksanwalt Peter Fichtenbauer und Lehrergewerkschafter Paul Kimberger – sicherten zu, sich für bessere Rahmenbedingungen für chronisch kranke Kinder und Jugendliche einzusetzen.

Rheuma verbindet man mit alten Menschen. Dass in Österreich immerhin fast eines von tausend Kindern und Jugendlichen betroffen ist, ist kaum bekannt – auch nicht an Schulen. Bettina Strohmayer, Mutter einer rheumakranken, 16-jährigen Tochter, die in Wien ein Gymnasium besucht, weiß das aus eigener Erfahrung. „Die große Herausforderung ist die Kommunikation mit der Schule. Meine Tochter spricht ohnehin ungern über ihre Krankheit. Ich denke, das ist bei vielen Kindern so: Wenn sie Schmerzen haben, ziehen sie sich zurück, allerdings wird das dann oft als mangelndes Engagement im Unterricht missverstanden. Und wenn ein Kind sagt ‚Mir geht’s nicht gut‘, dann sollte das nicht hinterfragt werden. Chronisch kranke Kinder sind ohnehin sehr tapfer, das soll auch anerkannt werden“, erzählt Strohmayer.

Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen wegen chronischer Krankheit

Auch Karin Formanek, Gründerin des Vereins Rheumalis, weiß um die Schwierigkeiten, die sich für chronisch kranke Kinder und Jugendliche in der Schule ergeben. Ihre Initiative und viele weitere waren beim Podiumsdiskussion-Gespräch vertreten, das von der Plattform „chronisch_konkret“ mit Unterstützung des BioPharma-Unternehmens AbbVie veranstaltet wurde. Die Betroffenen berichteten davon, dass Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen im österreichischen Schulsystem oft nicht die nötige Unterstützung bekommen. Die Probleme beginnen schon bei der Anmeldung in der Schule und reichen bis zu Schwierigkeiten, die Therapie in der Schule anwenden zu können oder krankheitsbezogene Bedürfnisse durchzusetzen.

Karina Trost ist Mutter einer 11-jährigen und einer 18-jährigen Tochter, die beide von der chronisch entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn betroffen sind. Während die Rahmenbedingungen für die ältere Tochter an den Schulen schwierig waren, profitiert die jüngere Tochter an der Mittelschule von einem besseren Umfeld: „Ich bemerke, dass die Vorerfahrungen der Direktorin und der Lehrer mit der älteren Tochter der jüngeren helfen. Wir haben das Glück, dass die jüngere Tochter eine ganz engagierte Klassenlehrerin hat, insgesamt ist das Pädagogen-Team eher verständnisvoll“, berichtet Trost. Trotzdem ist es noch immer eine große Herausforderung, ihr jüngeres, chronisch krankes Kind durch die Schule zu begleiten: „Wegen der Krankheitsschübe, die ja oft sehr rasch und unvorhergesehen eintreten, kommt es zu vielen Fehlstunden. Den versäumten Stoff muss ich dann mit meinen Kindern nacharbeiten, das ist nicht einfach“, erzählt die Mutter.

Evelyn Groß, Vizepräsidentin der ÖMCCV, der Österreichischen Morbus Crohn-Colitis ulcerosa Vereinigung, pflichtet Karina Trost bei: „An den Schulen fehlt das Bewusstsein vor allem für jene chronischen Erkrankungen, die nicht sichtbar sind. Viele chronisch entzündliche Darmerkrankungen verlaufen in Schüben: Ein Mädchen hüpft vielleicht an einem Tag im Schulhof herum, und am nächsten Tag kann es völlig unmöglich sein, den Unterricht zu besuchen oder gar zu turnen“, so Groß. In Österreich haben rund 80.000 Personen eine chronisch entzündliche Darmerkrankung, und die Anzahl der jugendlichen Betroffenen ist in den letzten Jahren enorm gestiegen.

Neue Haftungsregelung für LehrerInnen seit 2017

Die Benachteiligung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher war 2014 auch der Anlass, um eine parlamentarische Bürgerinitiative zu dem Thema zu starten, 2015 wurde eine Enquete dazu abgehalten. Die dabei geforderte Ausweitung der Amtshaftung wurde schließlich 2017 beschlossen. „Seither sind Pädagogen, die chronisch kranke Kinder im Unterricht unterstützen, rechtlich auf der sicheren Seite, die Republik übernimmt die Haftung“, erklärt Dr. Lilly Damm. Die Gesundheitswissenschaftlerin am Zentrum für Public Health der MedUni Wien, war viele Jahre Bundesschulärztin und kennt die Thematik aus der „Innensicht“ der Schulen: „Kinder mit chronischen Erkrankungen sind in den Schulen nach wie vor benachteiligt“, so Damm.

Maßnahmen, um chronisch kranken Schülern zu helfen

Expertin Dr. Lilly Damm schlägt drei Maßnahmen vor, um diese Diskriminierung zu beseitigen:

1. Eine adäquate Erste-Hilfe-Ausbildung mit regelmäßigen Auffrischungen für alle Lehrer. Derzeit ist es in der Pädagogen-Ausbildung ausreichend, den Erste-Hilfe-Kurs der Führerscheinprüfung nachzuweisen. „Doch an Schulen wird auch anderes benötigt. Lehrer müssen wissen, was sie etwa tun müssen, wenn ein Kind einen epileptischen Anfall bekommt. An jeder Schule haben wir zumindest ein Kind mit aktiver Epilepsie“, so Damm. 2. Bewusstseinsbildung für chronische Erkrankungen in der Aus- und Weiterbildung von Lehrern. Damm: „Es gibt Untersuchungen, die ganz klar zeigen, dass chronisch kranke Kinder bei gleicher kognitiver Begabung im Durchschnitt schlechtere Noten bekommen. Von manchen Lehrern wird den Kindern nicht einmal geglaubt, wenn sie beispielsweise von Schmerzen berichten. Durch uninformiertes Verhalten von Pädagogen wird Kindern geschadet, und zwar sowohl im Bildungs- als auch Krankheitsverlauf“, so Damm. 3. Assessments bei der Aufnahme chronisch kranker Kinder und Jugendlicher an Schulen: „Für Eltern chronisch kranker Kinder gleicht die Schulsuche einer Herbergssuche. Manche Schulen lehnen chronisch kranke Kinder ab, weil sie befürchten, sie nicht adäquat betreuen zu können. Es würde schon helfen, wenn sich Eltern, Lehrer und Schulärzte bei der Aufnahme an einen Tisch setzen und abklären: Was kann das Kind selbst, und welche Unterstützung braucht es darüber hinaus?“, und welche Unterstützung brauche die Schule, so Damm.

„Es ist inakzeptabel, wenn Kinder an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Es muss in einem reichen Land wie Österreich möglich sein, auch chronisch kranken Kindern die uneingeschränkte Teilnahme an Schule und Bildung zu ermöglichen“, meint Dr. Peter Fichtenbauer, der als Volksanwalt unter anderem für Kindergärten, Schulen und Universitäten zuständig ist. Es fehle laut Fichtenbauer an einer Sensibilisierung der PädagogInnen schon in der Lehrerausbildung, außerdem mangle es an medizinischem Fachpersonal an den Schulen.

In diese Kerbe schlug auch Paul Kimberger, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Pflichtschullehrerinnen und -lehrer: In Österreich gebe es zu wenig medizinisches „Supportpersonal“ an den Schulen, weshalb hierzulande mehr von den Lehrerinnen und Lehrern abverlangt werde. „Anfang der 1990er-Jahre haben die Schulen die ersten Integrationsklassen eingeführt, jetzt stehen wir vor der Herausforderung der Inklusion. Allerdings ist dieser Weg noch lange nicht abgeschlossen und muss auch gesamtgesellschaftlich mitgetragen werden. Die Erfahrung zeigt, dass die Probleme chronisch kranker Kinder noch zu wenig ernst genommen werden“, so Kimberger.

BM Dr. Juliane Bogner-Strauß, Bundesministerin für Frauen, Familien und Jugend, sicherte zu, sich innerhalb der Bundesregierung für die Anliegen chronisch kranker Kinder und Jugendlicher stark zu machen: „Die Plattform chronisch_konkret bringt Betroffene, Expertinnen und Experten mit der Politik zusammen, um gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Dieser Dialog ist wichtig und soll auf jeden Fall gemeinsam fortgeführt werden. Dafür werde ich mich in der Bundesregierung einsetzen“, so Bundesministerin Bogner-Strauß.

Über chronisch_konkret

Die Initiative „chronisch_konkret“ wurde 2016 von AbbVie und dem Haus der Barmherzigkeit ins Leben gerufen. Die Plattform bietet Betroffenen, aber auch Experten aus Wissenschaft und Medizin sowie wichtigen Vertretern der Behörden und der Politik die Möglichkeit, die aktuellen und künftigen Herausforderungen von chronischen Erkrankungen zu diskutieren und nachhaltige Verbesserungen und Lösungen zu erarbeiten.


Quelle: OTS



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