Tirol: Für die Zukunft lernen

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Foto: Land Tirol/Ibele
23 Jun 05:00 2017 von Redaktion Vorarlberg Print This Article

Studien zur Kinderbeobachtungsstation der Maria Nowak-Vogl in Innsbruck von 1954 bis 1987

„Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Vorkommnisse in der Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl ist sehr wichtig. Mit dem Wissen darum lernen wir für die Zukunft, damit solche Geschehnisse nie wieder passieren“, betont Landesrätin Christine Baur, zuständig für die Kinder- und Jugendhilfe des Landes Tirol, anlässlich der Präsentation zweier Studien, die sich mit der Kinderbeobachtungsstation der Maria Nowak-Vogl in Innsbruck von 1954 bis 1987 auseinandersetzen. „Nur mit den Erkenntnissen aus der Vergangenheit können die unterschiedlichen Institutionen ihre Lehren für eine bessere Zusammenarbeit ziehen und damit Gewalt und Übergriffe verhindern“, ist Landesrätin Baur überzeugt.

Sowohl die Institute für Erziehungswissenschaft, Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie sowie Zeitgeschichte der Universität Innsbruck als auch das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart befassten sich ausführlich mit Diagnose, Behandlung und Begutachtung von Kindern und Jugendlichen, die während der 1950er- bis 1980er-Jahre in der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation unter der Leitung der Psychiaterin Maria Nowak-Vogl als PatientInnen aufgenommen wurden.

Ort wiederkehrender Gewalt- und Ohnmachtserfahrung

„Auf Basis von über 1.400 in zwei Stichproben erfassten Krankenakten, umfangreichem zeitgenössischem Schriftgut, aber auch von Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenberichten konnten wir Geschichte, Praxis und Wirkung der Station rekonstruieren und ihre weiträumig strategische Schlüsselposition in Erziehungs-, (Fremd)Unterbringungs- und Sonderbeschulungsfragen herausarbeiten“, umschreibt Elisabeth Dietrich-Daum vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie den Inhalt der Studie der Universität Innsbruck. Die Innsbrucker Station von Nowak-Vogl – so die AutorInnen der 400 Seiten umfassenden Untersuchung – war die erste „Kinderbeobachtung“ in Österreich nach 1945. Sie wurzelt im Nationalsozialismus. Die Gründungsgeschichte ist – wie die neu konsultierten Akten zeigen – verbunden mit zwei MitarbeiterInnen des NS-Eugenikers Ernst Rüdins: dem Rassenhygieniker Friedrich Stumpfl und der Ärztin Adele Juda.


In den ausführlichen Gesprächen von MitarbeiterInnen des Forschungsteams mit ehemaligen KinderpatientInnen aus drei Generationen zeigte sich, dass der Aufenthalt an der Kinderbeobachtungsstation für alle GesprächspartnerInnen mit psychischen und physischen Verletzungen verbunden war. Ihre Erzählungen über Behandlungs- und Erziehungspraxis stimmen weitgehend überein: Sie kennzeichnen die Station als Mischung aus „Gefängnis“, „Kinderheim“ und „Versuchsklinik“, wo Disziplinierungen, Strafandrohungen und ein strenges Regular herrschten. Sie beschreiben das engmaschige Netz von Überwachung und Bestrafung, die peinliche Inspektion ihrer Genitalien, die ritualisierte Bloßstellung nach dem Bettnässen, den Essenszwang und den Essensentzug, die Verfolgung kindlicher Onanie, die Angst vor der Stationsleiterin und ihrem Schlüsselbund, der bei InterviewpartnerInnen bis heute sichtbare Narben hinterließ, sowie vor dem Bambusstock der Lehrerin, Nowak-Vogls Schwester, die über Jahrzehnte an der stationseigenen Sonderschule unterrichtete. Die Medikamentengabe wurde auch als ein Mittel der Sanktion erlebt, die Gespräche mit Nowak-Vogl als angsteinflößende Unterweisung, beschämende Moralrede und Drohung. „Alles in allem war für die ehemaligen Kinderpatientinnen und -patienten die Station ein Ort wiederkehrender Gewalt- und Ohnmachtserfahrung“, fasst Michaela Ralser vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck zusammen.

Nowak-Vogls Diagnosen: Vererbung, Veranlagung, „Milieuschäden“

Meist gebrachten die Kinder und Jugendlichen im Schulpflichtalter mehrere Wochen bis zu vier Monate an der Station. Ein Großteil lebte zuvor in der Ursprungsfamilie. 17 Prozent waren Heimkinder, elf Prozent kamen aus Pflegefamilien. Unter diesen Kindern bzw. Jugendlichen waren unehelich Geborene, SonderschülerInnen und Kinder in Fürsorgeerziehung deutlich überrepräsentiert. „Fast 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen hatten vor der Stationsaufnahme mit einem der regionalen Jugendämter Kontakt“, berichtet Ralser. Die Untersuchungen belegen damit, dass zwischen der Jugendwohlfahrt und Nowak-Vogls Kinderbeobachtungsstation eine enge Beziehung bestand, welche die wechselseitige Inanspruchnahme der Dienste garantierte und intensivierte.

Bei ihren Empfehlungen für die künftige Unterbringung der Kinder favorisierte Nowak-Vogl die Heimunterbringung: Bei mehr als einem Drittel der Kinder wurde ein bisheriger Heimaufenthalt bestätigt oder (bei jedem achten Kind) erstmals angeordnet. In den allermeisten Fällen attestierte Nowak-Vogl vererbte oder milieuspezifische Verhaltensauffälligkeiten und Normverstöße, psychiatrische Diagnosen kamen in nur sechs Prozent der Fälle vor. „Heute würde die Kinder- und Jugendpsychiatrie die in den Krankenakten notierten Symptome als entwicklungsbezogene Reaktionen auf chronische, psychosoziale Belastungen und Traumatisierungen interpretieren. Auch wären die Maßnahmen und Hilfestellungen heute andere“, stellt Dietrich-Daum klar. So behandelte Nowak-Vogl beispielsweise Bettnässen mit Dressur, Klingelmatratze und dem Antidepressivum Tofranil.

Häufige Verabreichung von Medikamenten

Mehr als die Hälfte der untersuchten Krankenakten vermerkten die Verabreichung von Medikamenten – von einfachen Vitaminpräparaten bis hin zu Neuroleptika. Bei den am häufigsten verordneten Medikamenten (56 Prozent) handelte es sich um Psychopharmaka. Sie nahmen ab den 1960er Jahren ständig zu. Über den gesamten Zeitraum betrachtet, wurde bei über einem Drittel der Aufnahmen die Gabe von Antidepressiva und/oder Neuroleptika notiert. In zehn Prozent der Aufnahmen finden sich Verschreibungen von Tranquilizern. Dieser Befund muss angesichts des niederen Durchschnittsalters der Kinder (elf Jahre) und des geringen Anteils psychiatrischer Diagnosen befremden. „Die Verabreichung des Hormonpräparates Epiphysan zur Verhinderung kindlicher Sexualität – überwiegend bei Mädchen – wurde in zwei Prozent der erhobenen Akten über einen Zeitraum von beinahe 30 Jahren dokumentiert. Das reale Ausmaß dieser Medikation ist jedoch weitaus größer anzusetzen“, erläutert Dietrich-Daum. Vor den von Nowak-Vogl 1952 begonnenen Epiphysan-Versuchen gab es keine Erfahrungswerte zur Verabreichung des Präparates an Minderjährige. Nowak-Vogl nahm also – wie sie 1957 auch selbst angab – damit verbundene mögliche gesundheitliche Risiken bewusst in Kauf.

Frauen und ArbeiterInnen – Jugend im Fokus einer rigiden Sexualmoral

Basierend auf einer Analyse zeitgenössischer Eheratgeber-Literatur, Zeitungen und weiteren Dokumenten wurden moralische Standards eruiert und mit einem geschlechter- und klassentheoretischen Zugang interpretiert. „Neben einem starken Fokus auf weibliche Sexualität ist der Diskurs auch durch eine unterstellte Inferiorität und (im Zeitjargon) sexuelle Verwahrlosung der unteren Klassen charakterisiert“, so die Politologin an der Universität Innsbruck, Institut für Zeitgeschichte, Alexandra Weiss. Eine herausragende Rolle wird dabei den (neuen) Massenkommunikationsmitteln zugeschrieben, die für einen Verfall von „Sittlichkeit“ verantwortlich zeichnen sollten – der sogenannte „Schmutz- und Schund“-Kampf steht exemplarisch dafür. Als besonders anfällig dafür galten Frauen, die ArbeiterInnenschaft und Jugendliche. Vorangegangene Studien haben gezeigt, dass es gerade die Kinder der unteren Schichten waren, die in das System Nowak-Vogl gerieten. Waren Nowak-Vogls Vorstellungen von Sexualität und die rigorose Unterdrückung kindlicher Sexualität in den ersten Jahren ihrer Arbeit als Stationsleiterin noch weitgehend konform mit jenen der politischen und kirchlichen Eliten des Landes, geriet sie vor allem ab Mitte der 1960er Jahre zunehmend in Gegensatz dazu. Insbesondere in den beiden letzten Jahrzehnten ihrer Tätigkeit können ihre moralischen Standards als im Zeitkontext unangemessen beurteilt werden.

System Nowak-Vogl als Phänomen der damaligen Zeit

Sylvelyn Hähner-Rombach vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart nahm in ihrer Studie einen lege-artis-Vergleich zu Diagnoseverfahren, Behandlungsmethoden und Begutachtungspraxis in der Kinderstation Nowak-Vogl vor: „Die Atmosphäre auf der Station war – auch aufgrund des sehr begrenzten Raumes ohne Rückzugsmöglichkeiten – für viele, wenn nicht die meisten Kinder und Jugendlichen in hohem Maße unerfreulich, für viele schrecklich“, entnimmt Hähner-Rombach den Akten, die ein ambivalentes Bild vom Verhalten Nowak-Vogls zeichnen: Einerseits finden sich Beweise für ein großes Engagement, in andern Fällen entsteht der Eindruck, dass sie sich nicht in erster Linie ihren PatientInnen verpflichtet fühlte, sondern eher den Interessen der Heime oder Jugendämter.

„Die quantitative und qualitative Gabe von Psychopharmaka erweckt trotz der festgestellten Steigerung nicht den Eindruck, dass der eigentliche Zweck eine massive Ruhigstellung der Kinder und Jugendlichen war“, stellt Hähner-Rombach fest. Es waren nämlich nicht lediglich die als „erziehungsschwierig“ eingestuften Kinder und Jugendlichen, die in erster Linie Psychopharmaka bekamen, sondern vor allem Kinder mit Krampfleiden (Epilepsien) und mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen. Bedacht werden müsse außerdem, so Hähner-Rombach, dass Dosierungsfragen und die Wahl der Mittel bis in die 1980er Jahre hinein noch nicht geklärt waren bzw. im Einzelfall einfach ausprobiert wurden, da es kaum dokumentierte Erfahrungswerte gab.

„Trotz aller, vor allem retrospektiv geübter Kritik an den Zuständen auf der Kinderbeobachtungsstation und am Umgang von Maria Nowak-Vogl mit den ihr anvertrauten Kindern und Jugendlichen, deren Berechtigung nicht in Abrede gestellt werden soll, muss man auch die Zeitumstände berücksichtigen. In dieser Zeit gab es keine allgemeingültigen Regeln für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen“, resümiert Hähner-Rombach. Bestimmte therapeutische Vorgehensweisen waren demnach zeitgenössisch, wenn auch nicht „regelhaft“ und können nicht pauschal als Unrecht bewertet werden. „Auch sollte bedacht werden, dass Alternativen noch nicht zur Verfügung standen und sich das kritische Bewusstsein bestimmten Therapien und Bedingungen gegenüber frühestens seit dem Ende der 1960er Jahre langsam zu entwickeln begann“, weist Hähner-Rombach auf den damaligen (Nicht-)Wissensstand hin. Eine wirkliche Bewertung der Vorkommnisse in der Kinderstation der Nowak-Vogl sei überdies erst nach Abschluss der Analyse und des Vergleichs mit den Krankenakten anderer kinderpsychiatrischer Einrichtungen möglich.



Quelle: Land Tirol



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