Österreichische Erstaufführung: DIE ANDERE SEITE

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Guido Werner
Foto: Michael Obst
23 Mai 14:05 2017 von Oswald Schwarzl Print This Article

MUSIKTHEATER NACH ALFRED KUBINS FANTASTISCHEM ROMAN VON MICHAEL OBST

LINZ. Zum Stück

EIN REICH VOLLER MERKWÜRDIGKEITEN: KUBINS "DIE ANDERE SEITE"

Alfred Kubin war einer der Künstler, der im Grunde mit seinem gesamten Werk die Abgründe des Lebens heraufbeschwor. Seine alptraumartigen Szenerien, seine beängstigenden Fantasien, seine zur Kenntlichkeit verzerrten Darstellungen kollektiver Gewalttätigkeiten, die einem aus beinahe jeder seiner Zeichnungen oder Bilder entgegenschreien, sind auf der einen Seite das Gegenteil von aufklärerischer, glättender Ratio. Auf der anderen Seite sind sie gleichwohl aber auch aus einer analytischen Schärfe gespeist. Und was für sein bildnerisches Werk gilt, das trifft auf seinen einzigen Roman Die andere Seite erst recht zu. Denn hier kann er – anders als in seinen Zeichnungen oder Illustrationen – nicht nur eine punktuelle Momentaufnahme emotionaler und psychischer Ausnahmezustände bieten, sondern quasi ein permanentes apokalyptisches Untergangsszenario entwerfen.

Dabei beginnt der Roman relativ harmlos im Stile einer Künstlernovelle des frühen 20. Jahrhunderts, wenn man der namenlosen Hauptfigur, einem Zeichner, in München begegnet. Dort trifft er auf einen etwas undurchsichtigen, aber dank seiner finanziellen Potenz letztendlich glaubwürdigen Unbekannten. Dieser überbringt eine Einladung von Klaus Patera, einem Schulfreund des Zeichners, nach Perle überzusiedeln. Perle ist dabei die Hauptstadt eines von Patera irgendwo in Asien geschaffenen Traumreiches. Der Zeichner nimmt die Einladung an und bricht mit seiner Frau Richtung Perle auf. Fast scheint es so, als wolle Kubin dann bei der Schilderung der langen Fahrt seinen Leser auf eine falsche Fährte locken, denn die Beschreibung der Route hat eher etwas von einem traditionellen Reiseroman. Doch kaum in Perle angekommen häufen sich die Merkwürdigkeiten und Verunsicherungen: Über der Stadt liegt beständig ein nebulöser Dunst; die Jahreszeiten unterscheiden sich nur minimal voneinander, was gleichzeitig heißt, dass auch das Zeitempfinden gestört ist; obwohl mitten in Asien gelegen, sieht Perle aus wie eine beschauliches, altertümliches Städtchen irgendwo in Europa; Neues ist in diesem Lande verpönt; die Bewohner des Traumstaates sind alle etwas seltsam; wie unter einem Bann stehend vollführen Pateras Untertanen undurchschaubare Rituale; die für einen Besuch bei Patera zu erledigenden Formalitäten nehmen kafkaeske Züge an; dann ist es auf einmal wieder ganz leicht für den Zeichner zu Patera zu gelangen; die Frau des Zeichners zerbricht an diesen skurril-unheimlichen Zuständen und stirbt; Werte scheinen in dem Traumreich nicht zu bestehen, denn zum einen schwanken die Preise auf das Extremste, zum anderen scheinen Kategorien wie Gut und Böse oder moralisch und verwerflich keine Rolle zu spielen; ein sich brutal-kapitalistisch gebärdender Amerikaner erscheint, der Patera den Kampf ansagt; der Verfall des Traumreiches schreitet immer mehr voran; die Zügellosigkeit kennt keine Grenzen mehr; die Bevölkerung wird in einen Taumel aus Sex und Gewalt hineingerissen; und schließlich bemächtigen sich die Tiere des Traumstaates. Dem Zeichner gelingt es jedoch, quasi im letzten Moment Perle wieder zu verlassen.

Kubin macht sich also die Freude, zu Beginn seines Buches der Leserschar vorzugaukeln, einen herkömmlichen Künstler- oder Reiseroman in den Händen zu halten. Umso heftiger wirkt dann jedoch der Umschlag, sobald der Zeichner in Perle angekommen ist. Denn hier stößt Kubin das Tor für skurrile, traumatische, halluzinative, beängstigende, apokalyptische Fantasien umso weiter auf. Dabei lässt er den Leser generell im Unklaren, was von den geschilderten Vorgängen Realität, was Traum, was Einbildung, was dichterische Freiheit ist.

Durch diese Aufhebung der Grenze zwischen Fiktion, Unterbewusstem und der Wirklichkeit muss ein Buch wie die Andere Seite einen Rationalisten extrem verunsichern. Das Fehlen jeglicher Vernunft bei der Schilderung der Vorgänge in Perle wirft einen wieder zurück auf Michel Foucaults Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit der Unvernunft. Kubins Roman liest sich vor diesem Hintergrund geradezu wie ein Manifest des Wahnsinns. Das korrespondiert auch mit Kubins persönlicher Situation zu der Zeit, als er den Roman in Angriff nahm. Denn unmittelbar davor durchlebte Kubin sowohl eine emotionale wie künstlerische Krise. So hatte ihn der Tod seines Vaters nervlich extrem angegriffen, während die reichhaltigen Eindrücke, die er auf einer Italienreise empfangen hatte, eine Zeichenblockade bei ihm auslösten. Kubin befand sich damals also in einem psychischen Ausnahmezustand, der ihn jedoch letztendlich drängte, seinen ersten und einzigen Roman quasi als eine Art Autopsychotherapie zu verfassen. Die Spur des Wahnsinns durchzieht demnach nicht nur die Andere Seite selbst, sondern auch die Lebensumstände Kubins vor und während der Arbeit an seinem Buch. Und natürlich ist der Roman auch ein Echo auf das Wirken Sigmund Freuds, der mit seinen zur selben Zeit entwickelten und propagierten Theorien, die Rationalisten ebenfalls verunsicherte. Denn Freud offenbarte, dass der Wahnsinn und die Unvernunft eben nicht ignoriert und ausgegrenzt werden können, da die psychischen Abgründe in jedem Einzelnen lauern und jederzeit an die Oberfläche drängen können.


Quelle: Landestheater Linz



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Oswald Schwarzl

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